© DAV Bergbund/Tiefenthaler

Grande Traversata delle Alpi

Teil VI, Juli 2020 und September 2020, von Markus Tiefenthaler

30.09.2020

Wie würde das gehen, in diesem verflixten Jahr 2020? Wir haben vor, diesmal drei Wochen unterwegs zu sein und wollen bereits Ende Juni starten. Aber das erste Busticket verfällt schon mal, denn noch gelten Reisebeschränkungen. Um die erste Urlaubswoche doch gut zu nutzen, fahren wir mit dem Rad und Zelt von Rosenheim nach Berchtesgaden quer durch die Berge und es wird uns wieder einmal klar, dass wir nicht traurig sein müssten, wenn wir nicht aus Bayern rauskommen könnten, da ja direkt vor unserer Haustüre so viel Schönes liegt.

Aber dann entspannt sich die Lage zum 1. Juli doch noch deutlich und wir kaufen rasch entschlossen ein Bahnticket. Maskiert und in schwach besetzten Zügen fahren wir über Mailand und Turin nach Susa. Spät abends kommen wir dort an und unser Pensionsherr ist so freundlich, uns direkt am Bahnhof abzuholen. Ja, die Pensionswirte sind auch wieder froh, wenn Gäste kommen, aber es ist sicher nicht nur der Geschäftssinn.

Wir haben uns dazu entschlossen, aus den vorliegenden Alternativen der ursprünglichen GTA von Susa aus in Richtung Salbertrand zu folgen. Für uns eine gute Gelegenheit zum Einlaufen, denn die ersten zwei Tage würden noch wenig Höhenunterschied bringen. Unser Plan war es, diesmal durch die Cottischen Alpen bis zum Monviso zu gehen, der uns ja schon seit längerem in die Augen stach, und dann einmal rundherum, damit wir auch ja alles sehen würden. Wie gesagt, das war der Plan.

Ganz gegen unsere Gewohnheit haben wir auch bereits für die ersten fünf Nächte unser Quartier gebucht, denn so sicher sind wir uns doch nicht, wie es laufen würde. Zuerst einmal sieht es aber so aus, als würde der Plan schon nach den ersten Stunden scheitern. Wie wir bereits aus der Beschreibung wissen, ist die Strecke an einer Stelle zwischen Susa und unserem ersten Etappenziel Ruinas blockiert. Hier erfolgen geologische Untersuchungen für eine Hochgeschwindigkeits-Strecke durch das Tal, die heftigen Widerstand von Seiten der Bevölkerung hervorrufen, weil es bereits eine Autobahn und eine normale Bahnstrecke im Tal gibt. Was aber hinter einer Kurve auftaucht, schockt uns dann doch ein wenig. Gut fünf Meter hoch sind die Absperrungen aus dicken Stahlträgern und Baustahlgewebe. Das sieht eher aus wie eine Panzersperre. Nun gut, im Führer steht ja, dass wir nach rechts eine Umgehung finden sollten.

Steil geht es bergauf, durch lichten Kastanienwald, aber hier könnte eben alles Weg sein, oder aber auch nur Ziegenspuren. So sind wir froh, als wir nach einer Weile Stimmen hören und gehen darauf zu. Unter uns taucht wieder die Absperrung auf und davor stehen mitten im Wald fünf sichtlich gelangweilte Polizisten. Ich frage nach der Fortsetzung der GTA, aber keiner spricht Englisch und mit unseren Rucksäcken werden wir misstrauisch begutachtet. Dann verlangt einer der Polizisten unsere "Documenti", während ein anderer mit der MP im Anschlag auf uns zukommt. Das schaut nicht gut aus. Der Capo führt ein Telefongespräch und bedeutet uns, zu warten. Eine Weile später tauchen drei weitere Polizisten auf, diesmal in Zivil. Die Dokumente werden gezeigt, aber wieder versteht keiner Englisch, und mit unserem wenigen Italienisch versuchen wir zu erklären, warum wir hier sind, fragen nach der GTA und zeigen die Karte, auf der alles eingezeichnet ist. Aber es interessiert keinen.

Wieder wird eifrig mehrmals telefoniert und dann lautet die Auskunft, unterstrichen von nicht gerade freundlichen Bewegungen, dass wir zurückgehen müssen. Sollte hier schon Schluss sein? Mehr aus der Not sage ich, dass wir vorreserviert hätten, und zeige den Namen des Agriturismo. Wieder wird telefoniert und dann heißt es ganz knapp, dass wir weitergehen können. Wer soll das verstehen? Ist den Herren im Wald einfach nur langweilig? Wie auch immer, wir sind recht erleichtert. Nach dem Weg fragen wir nicht mehr und stoßen dann wenig weiter wieder auf Markierungen, die uns auf einem der alten Saum- und Höhenwege nach Ruinas bringen. Eine schöne Gumpe nutzen wir noch zur Rast und zu einem kleinen Bad.

Verlockend klingt der Name des Ortes, in dem unsere Unterkunft liegt, ja nicht, aber die Wirklichkeit ist dann sehr angenehm. Untergebracht im obersten Stock eines alten Bauernhauses haben wir einen weiten Blick über die Weinberge und talauswärts bis zum Rocciamelone. Dazu, wie fast immer, ein sehr feines Essen, vieles aus der eigenen, kleinen Landwirtschaft.

Der Weinbau wird in dieser Gegend bis 1200 Meter hinauf betrieben und hier liegen die am höchsten gelegenen Anbaugebiete in den Alpen. Das liegt unter anderem daran, dass das Alta Val Susa eine inneralpine Trockenzone mit überdurchschnittlich mildem Klima ist. Wir befragen unseren Wirt natürlich auch, wie bei ihnen die Situation wegen Corona ist, und er meint, dass es im ganzen Tal kaum eine Infektion gegeben hätte. Nur die Verluste durch den Lockdown und die Zurückhaltung der Touristen würden ihnen einigermaßen zu schaffen machen. Aber er habe noch seine Landwirtschaft und werde schon irgendwie durchkommen.

Der nächste Tag erwartet uns wieder mit Sonne und früh am Morgen machen wir uns auf den Weg. Hier "unten", auf 1200 -1400 Metern, ist das Jahr bereits fortgeschritten und viele Blumen sind schon am Abblühen. Der Tag verspricht heiß zu werden und wir haben ein ganz nettes Stück vor uns. Zuerst geht es nur leicht steigend über mehrere, schöne Dörfer in Richtung Westen auf die französische Grenze zu. Im Tal taucht die Festung von Exilles auf. Die drittgrößte Festungsanlage im Alpenraum ist aus der Vogelperspektive gut zu überschauen. Auch auf diesem Festungshügel unterhielten bereits die Römer ein Lager und bei den letzten Umbauten der Festung im 18. Jahrhundert erhielt diese eine einen Kilometer lange, schnurgerade Zugangsrampe, auf der der König hochreiten konnte.

Salbertrand ist eine nette Stadt, gewinnt aber eher nicht durch den doppelt so großen LKW-Rastplatz und die Autobahn in direkter Nachbarschaft. Nach einem kurzen Cappuccino und ein paar Einkäufen verlassen wir den Ort rasch und queren das Tal, hinüber in den Naturpark "Gran Bosco". Der Wald hier ist recht ursprünglich, weil er zum Schutz vor Lawinen immer geschont wurde. Viele alte Bäume, darunter auch viele Arven und Rottannen, beweisen dies. Im Wald ist es ruhig und angenehm kühl, so dass wir erst einmal Brotzeit machen, denn nun steht ein längerer Aufstieg über 800 Meter bevor. Wir sind schon gespannt auf unser heutiges Quartier, denn das private Rifugio Arlaud im Almdorf Montagne Seu soll als eine der ersten Hütten im Alpenraum das Umweltgüte-Siegel erhalten haben.

Allein der Platz ist schon eine Sensation: weit schweift der Blick nach Westen in die Dauphine. Zu sehen ist unter anderem La Meije. Die Hütte ist in einem der alten Almgebäude untergebracht und wird von Frauen bewirtschaftet. Überall in den umliegenden Ruinen haben sie kleine Terrassen und Rasenflächen angelegt mit vielen Blumen und ein paar Tischen und Bänken. Perfekt zum Wohlfühlen und Erholen. Am Abend gibt es dann lokale Spezialitäten. Außer der Wirtin und einer befreundeten Familie sind wir allein. Das sollte noch öfter so sein, in diesem Jahr.

Der nächste Tag führt uns über die Baumgrenze auf die Testa dell Assietta, 2565m. Hier oben lieferten sich im Jahr 1747 20.000 Franzosen und Spanier eine Schlacht gegen 8.000 Piemontesen und Österreicher, die sich in der Gipfelregion verbarrikadiert hatten. Trotz der zahlenmäßigen Überlegenheit wurden die Franzosen zurückgeschlagen. Noch heute sieht man den Verlauf der piemontesischen Befestigungen und jedes Jahr wird mit historischen Darstellungen an die Auseinandersetzungen erinnert. Heute führt eine lange Militärstraße den Kamm entlang, die leider auch teilweise für den Straßenverkehr geöffnet ist.

Direkt im Gipfelbereich waren die Blumen gerade in voller Pracht und auch die weite Sicht auf Dauphine, die Cottischen und die Grajischen Alpen lud zu einer längeren Rast ein. Erst die allmählich zahlreicher werdenden Mountainbiker, Motorräder und Autos lassen uns den Gipfel räumen.

Gottseidank führt der Weg bald von der Straße weg und über blühende Wiesen hinunter in das Val Chisone. Der Posto Tappa in Usseaux ist dieses Jahr geschlossen, aber nicht wegen Corona, sondern weil der Pächter in Rente gegangen ist. Und weil es auch gerade Wochenende ist, hatte es in der Vorbereitung ein paar Tage gedauert, bis wir im Hotel am Lago de Laux ein Zimmer bekamen. Das ist zwar nicht ganz billig, aber es ist auch ein ausgezeichnetes Plätzchen. Nach der langen Wanderung strecken wir die Füße auf der Seeterrasse aus und freuen uns über ein erstes Bier. Am Abend gibt es, nach verschiedenen Vorspeisen aus hauseigenem Ziegenkäse, Polenta in den verschiedensten Variationen.

Hier wollen wir einen Tag bleiben, denn ganz in der Nähe liegt die Festung Fenestrelle. Nach Informationen vor Ort das zweitgrößte Bauwerk der Menschheit nach der Chinesischen Mauer (auch wenn ein riesiger Sprung dazwischen liegt). In dieser unruhigen Ecke zwischen Frankreich und Piemont reihen sich die Festungen ja auf, wie Perlen an der Schnur, aber Fenestrelle nimmt schon eine Sonderstellung ein. Im Jahre 1728 begannen die Bauarbeiten an der Festung, die über 600 Höhenmeter drei starke Kastelle und mehrere Feldschanzen durch einen überdeckten Wehrgang mit 4.000 Stufen verbindet. Parallel dazu wurden am Berghang mehrere Kanonenstraßen angelegt, um die Mauern zu bestücken. Abgetrennt wurden die Straßen durch Zugbrücken. Das ganze Vorfeld wurde abgeholzt.

50 Jahre später war alles fertig gestellt und mit 4000 Mann Besatzung versehen. Im Napoleonischen Krieg aber wurde die Festung kampflos übergeben und es kam nie zu einem richtigen Einsatz. Napoleon nutzte die Festung dann als Kaserne und Militärgefängnis und nach dem Wiener Kongress wurde die Grenze weiter nach Westen verlegt, so dass die Festung ihren militärischen Wert verlor und weiterhin nur als Kaserne und Gefängnis genutzt wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Festung dann zu verfallen und erst 1990 erkannte man das touristische Kapital und die Anlage wurde wieder begehbar gemacht.

Wir kommen gegen 9:30 zur Kasse am Eingang, um dort zu erfahren, dass die große Führung bereits um 9:00 Uhr gestartet ist. Diese Führung dauert sieben Stunden und führt ganz hinauf zum höchsten Punkt der Festung. An einer kleinen Führung haben wir kein Interesse, denn man bekommt nur die untersten Kasernen zu sehen. Also beschließen wir, dem Hinweis Bätzings zu folgen und steigen einen Weg im Süden parallel zur Mauer empor, eine der vorher bereits erwähnten Kanonenstraßen. Heute ist aber alles zugewachsen und enttäuscht stellen wir fest, dass sich kaum Ausblicke auf die Anlage ergeben. Auf gut halber Höhe treffen wir direkt auf die Mauer und im Schatten rasten sich einige Leute aus. Wir gehen näher und einer davon spricht uns an. Es ist der Führer der langen Tour, die hier Halbzeitpause macht. Tja, und er fragt uns, ob wir denn mitgehen wollen. Wir beeilen uns, ja zu sagen. Die Führungen werden ehrenamtlich von einem Verein durchgeführt, und da der Führer recht gut Englisch spricht, bekommen wir immer wieder unsere Privaterklärung in den folgenden drei Stunden, die uns durch das mittlere Kastell Tre Denti bis zur obersten Festung Delle Valli führen. So darf jeder einzeln in die 25m³ große Zisterne kriechen, die von Hand aus einem einzigen Felsen geschlagen wurde. Die gedeckten Wehrgänge sind nicht beleuchtet und man kann überall hingehen oder raufklettern. Bei uns undenkbar. So bekommen wir doch noch einen starken Eindruck der ganzen Anlage und erfahren viel Interessantes.

Oben angekommen trennen wir uns von der Gruppe, und gehen unseren eigenen Weg zurück zu unserem Quartier. Dieser führt uns noch durch schöne, abgeschiedene Dörfer, die jetzt erst ganz allmählich der Fremdenverkehr erreicht, und über grandiose Almen. Den abwechslungsreichen Tag lassen wir in der Abendsonne auf der Hotelterrasse ausklingen.

Auch die nächste Etappe führt uns durch eine Gegend, die von früheren Gehversuchen im Wintersport mitgenommen ist. Besonders hässlich zeigt sich das in Ghigo di Prali mit mehreren, großen Hotels und Liftanlagen, die nun aber völlig verlassen sind. Aber diese Sünden kennen wir ja zur Genüge aus unseren Bergen. Auch das Quartier ist leider entsprechend eine Enttäuschung, wir werden zum Essen einen Kilometer talauf geschickt in ein Schnellrestaurant im Keller einer Liftstation. Das ließ uns all die anderen Quartiere doch wieder deutlich höher schätzen.

Interessant aber sind die Beckwith-Schulen, die man auch in den kleinsten Dörfern hier findet. Ein englischer Offizier dieses Namens hatte sich Anfang des 19. Jahrhunderts hier niedergelassen und begonnen, überall Kleinstschulen mit nur einem Schulraum und nebenberuflichen Lehrern zu errichten. Fast 200 dieser Schulen gab es zur besten Zeit und so hatten diese Täler Anfang des 20. Jahrhunderts mit die niedrigste Analphabeten-Rate in ganz Italien. Da diese Schulen aber ideologisch nicht zu kontrollieren waren, waren sie dem italienischen Staat ein Dorn im Auge und zwischen 1911 und 1918 wurden alle diese Schulen aufgelöst.

Am nächsten Tag, nach den letzten Liften, wird es aber rasch wieder schöner und wir gehen eine steile Straße hoch zum Rifugio Lago Verde. Leider ist schon am frühen Morgen alles dicht vernebelt, so dass wir kaum etwas sehen und der Weg zieht sich. Wieder haben wir uns für eine längere Variante von Bätzing entschieden und gegen die Auffahrt mit dem Lift und über die 13 Seen. Bätzing schreibt hier, dass der Höhenweg vom Rifugio Lago Verde zum Colle Giulian zu seinen Lieblingsetappen gehört. Im Gegensatz schreibt der Rother, dass das "ständige Auf und Ab" demotivierend wirkt. Wir wollen uns selber ein Urteil bilden.

Kurz vor der Hütte kommen wir unvermutet durch den dichten Nebel in den strahlenden Sonnenschein, über uns prangt ein wolkenloser Himmel, und aus dem eintönigen Bergauf wird ein wunderbarer Gang durch Blumen, vorbei an Seen und Bächen, bis zur Hütte.

Noch ist es früher Nachmittag und nach einer kurzen Pause frage ich die drahtige Wirtin, ob wir noch auf den Bric Bucie steigen könnten, einen markanten fast Dreitausender oberhalb der Hütte. Die Auskunft ist, dass das kein Problem sei, sie würde aber nicht den Umweg über den Col Buccie nehmen, sondern direkt vom Passo Buccie über den Buciret aufsteigen. Der Weg sei gut zu finden und markiert. Also machen wir uns auf den Weg. Bis zum Passo geht es recht einfach, auch wenn noch etwa Schnee liegt, aber der ist am Nachmittag weich und gut begehbar. Dann kommt ein etwas steilerer Abschnitt mit sehr spärlichen Markierungen, aber die Beschreibung der Wirtin ist gut und wir finden auch hier durch. Der Weiterweg ist erkennbar, schaut aber steil und felsig aus, und so beschließt Lisa, dass sie hier zurückbleibt. Im oberen Teil des Grates erkennen wir einige Franzosen, die mit dem Seil unterwegs sind und ewig herumsuchen. Ich mache mich also auf dem Weg und im festen Fels komme ich rasch höher entlang der Markierungen, die spärlich sind, aber doch ausreichend. Bald passiere ich die französische Gruppe, die sich nun entlang meines Aufstiegs nach unten orientiert, und kurz darauf bin ich am Gipfel. Die ganzen Cottischen Alpen bis zum Monviso liegen frei vor mir, in die andere Richtung geht der Blick zurück zum Rocciamelone und bis zum Monte Rosa. Was für ein traumhafter Gipfel. Rasch bin ich wieder unten, überhole dabei wieder die französische Gruppe, die sichtlich überfordert ist, und mit Lisa gehe ich zurück zur Hütte.